Auflösungsprozess einer Kristallstruktur: Zwei SiO4-Moleküle gehen in Lösung (oben links), Quarzkristall (oben rechts) und computersimulierte Oberfläche einer sich auflösenden Kristallstruktur. A. Lüttge, MARUM
Steter Tropfen höhlt den Stein
Was genau an der Grenzschicht zwischen Tropfen und Stein geschieht untersuchen Bremer Forscher parallel in Experiment und Computersimulation auf molekularer Ebene.
Wissenschaftler der Rice University, Texas, und des MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen haben einen Weg gefunden, die Prozesse, die bei der Auflösung kristalliner Strukturen im Wasser ablaufen, um ein Vielfaches präziser beschreiben und vorhersagen zu können als bisher möglich. Ihre Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift The Journal of Physical Chemistry erschienen.
Das Untersuchungsgebiet von MARUM-Wissenschaftler Professor Andreas Lüttge liegt im Nanometerbereich und doch ist es riesengroß. Denn der Professor für Mineralogie forscht an der dünnen Grenzschicht zwischen Mineralen und Flüssigkeiten, die praktisch überall auf der Welt vorkommt, wo Flüssigkeiten auf Minerale treffen: Wo Regen auf Stein fällt, Wasser durch Böden sickert oder auch am Meeresboden in der Tiefsee. Dementsprechend groß ist das Interesse sowohl der Naturwissenschaften als auch der Technik an den Wechselwirkungen zwischen Wasser und kristallinen Strukturen und der präzisen Vorhersagbarkeit von Auflösungsprozessen.
„Um vorhersagen zu können, was mit bestimmten Materialien in der Natur und im Zivilisationsraum geschieht, brauchen wir ein besseres Verständnis der Reaktionen und Mechanismen, die an der Grenzschicht zwischen Mineral und Flüssigkeit ablaufen“, so Lüttge.
Hierzu untersuchten er und sein Team am Beispiel von Siliziumdioxid (SiO2) – besser bekannt als Quarz, dem zweithäufigsten Mineral in der Erdkruste – die Prozesse bei der Auflösung. An der reaktiven Fläche, also der Grenzfläche zwischen Material und Flüssigkeit, laufen verschiedene Reaktionen nacheinander und teilweise auch gleichzeitig ab. Ziel der Studie war es, die dort ablaufenden Wechselwirkungen in Computersimulationen zu erfassen, um damit errechnen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit welcher Prozess ablaufen wird. „Mit unserer Simulation können wir sehr genau die Wirklichkeit abbilden und damit präzise Vorhersagen zur Auflösung kristalliner Strukturen treffen“, so Lüttge. „Das bisher verwendete Modell zur Vorhersage von Auflösungsprozessen basiert auf der Verwendung von Geschwindigkeitskonstanten und birgt eine große Fehlerquelle. Da kann Vorhersage und Wirklichkeit auch schon einmal um zwei Größenordnungen auseinander klaffen.“
Um zu überprüfen, wie gut ihre Simulationen die realen Prozesse darstellen, kombinieren die Forscher Computermodelle und Experimente. Mit einem besonderen Bildgebungsverfahren, der sogenannten Vertical Scanning Interferometry, das Lüttge mitentwickelt hat, scannen die Forscher den Quarz und erstellen so eine Art Topographie der Kristalloberfläche mit einer Bildauflösung von wenigen Nanometern.
Lüttges neue Methode zur präzisen Vorhersage von Auflösungsprozessen könnte die Standardberechnungen in vielen Teilbereichen der Naturwissenschaften und der Technik revolutionieren. Die möglichen Anwendungsgebiete sind zahlreich: Ob bei der Berechnung zur Stabilität von Baumaterialien oder der Untersuchung von Barrieregesteinen in der Endlagersuche. „Wir wollen im nächsten Schritt versuchen, unsere Simulationen auf größere Systeme und längere Zeiträume zu übertragen.“