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Unterwasserlawine mit gigantischen Auswirkungen entschlüsselt

Forschende der Universitäten Kiel und Liverpool haben eine der größten Unterwasserlawinen der Erde im Agadir Canyon vor der Küste Marokkos, einem der größten Canyons der Welt, erstmals umfassend von der Quelle bis zur Senke kartiert. Mit ihrer Studie konnten die Autoren widerlegen, dass gewaltige Unterwasserlawinen nur durch entsprechend große Anfangsrutschungen entstehen. Ihre Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Science Advances erschienen.

von | 23.08.24

Das Forschungsschiff vor der Küste Marokkos. Mit ihrer Studie konnten die Autoren widerlegen, dass gewaltige Unterwasserlawinen nur durch entsprechend große Anfangsrutschungen entstehen.
Quelle: Sven Heinrich Uni Kiel

Unterwasserlawinen im Meer können gewaltige Ausmaße annehmen und dabei in nur einem einzigen Ereignis riesige Mengen an Sediment in die Tiefsee transportieren. Einmal in Bewegung, sind sie eine immense Gefahr für moderne Infrastrukturen im Meer. Eine der weltweit größten Unterwasserlawinen, das so genannte ‚Bed 5‘-Ereignis aus dem Agadir Canyon vor der Küste Marokkos, konnten nun Forschende unter gemeinsamer Leitung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der School of Environmental Sciences im britischen Liverpool erstmals umfassend von der Quelle bis zur finalen Ablagerung kartieren und rekonstruieren. Dabei widerlegten die Autoren die bisher gängige wissenschaftliche Annahme, dass solch gewaltige Unterwasserlawinen nur durch entsprechend große Anfangsrutschungen entstehen können.

Das in der Studie untersuchte ‚Bed-5‘-Ereignis vor etwa 60.000 Jahren begann dagegen als kleiner Erdrutsch am Meeresboden mit einem Volumen von etwa 1,5 km³, wuchs auf das Hundertfache an und bewegte sich über 400 km durch einen der größten Unterwasser-Canyons der Welt. Dabei riss der Suspensionsstrom Geröll, Kies, Sand und Schlamm mit sich, bevor er weitere 1600 km über den Atlantikboden zurücklegte. Die neue Studie bildet eine wichtige Grundlage für die Neubewertung von submarinen Hangrutschungen.

Erstaunliches 100faches Wachstum einer kleinen Unterwasserlawine

„Unsere Untersuchungen des ‚Bed 5- Suspensionsstroms‘ zeigen eindrucksvoll, wie ein relativ kleines Ereignis am Kopf des Agadir Canyons durch extreme Sedimentaufnahme zu einem gigantischen Strom anwachsen kann. Diesen Prozess konnten wir nun zum ersten Mal nachweisen und damit eine These der geowissenschaftlichen Forschung revidieren“, sagt Dr. Christoph Böttner, Erstautor der Studie, der die Arbeiten zur aktuellen Studie am Institut für Geowissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) begonnen hatte.

 

„Schneelawinen an Land wachsen typischerweise auf das vier- bis achtfache ihres Ausgangsvolumens an. Im Ozean konnte die Lawine jetzt mindestens das 100-fache ihres ursprünglichen Volumens aufnehmen und sich mehr als 2.000 Kilometer ausbreiten. Das entspricht etwa der Strecke von Kiel nach Rom. Insgesamt begrub die Lawine dabei eine Fläche so groß wie Deutschland,“ ergänzt Geophysiker Böttner, der heute mit einem Marie-Skłodowska-Curie Stipendium in Aarhus forscht.

Feinkörniges Material und Größe des Canyons entscheidend für unkontrolliertes Wachstum

Der Agadir Canyon vor der marokkanischen Küste ist einer der größten Unterwasser-Canyons der Welt. Mit einer Länge von über 450 Kilometern, einer Breite von bis zu 30 Kilometern und einer Tiefe von 1,5 Kilometern hat er eine enorme Kapazität für Unterwasserlawinen, so genannte Suspensionsströme wie das ‚Bed-5‘ Ereignis. Dieses haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Kiel, Aarhus und Liverpool nun gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel und des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) umfassend untersucht. Grundlage waren vor allem Daten von Expeditionen mit dem deutschen Forschungsschiff Maria S. Merian in den Jahren 2013 und 2023 unter der Leitung der Universität Kiel. Das Forscherteam analysierte insgesamt mehr als 300 Bohrkerne aus dem Gebiet, die bei unterschiedlichen Forschungsfahrten in den vergangenen 40 Jahre gewonnen wurden.

Zusammen mit seismischen und bathymetrischen Daten konnten sie so die riesige Unterwasserlawine von Kopf bis Fuß kartieren. Die Lawine begann mit einer kleinen Unterwasserrutschung von maximal 1,5 Kubikkilometern. Durch die Aufnahme von Sedimenten wuchs sie zu einem riesigen Suspensionsstrom mit einem Volumen von 162 Kubikkilometern an. Die Unterwasserlawine raste mit über 50 km/h über eine außergewöhnlich lange Strecke von mehr als 2.000 Kilometern bis in die Tiefseebecken vor dem Mittelatlantischen Rücken. Entscheidend für das unkontrollierte Wachstum und den extremen Erosionsgrad war die Mitnahme von sehr feinkörnigem Material sowie die schiere Größe des Canyons.

Forschende erbringen ersten Feldnachweis eines nur theoretisch bekannten Prozesses

Suspensionsströme gehören zu den wichtigsten geologischen Prozessen im Meer. Sie bewegen Material wie Sedimente, Nähr- und Schadstoffe und formen Meeresboden wie auch Lebensräume für zahlreiche Meeresbewohner. Sie stellen aber auch eine erhebliche Gefahr für Infrastrukturen im Meer dar, auf die der Mensch angewiesen ist wie etwa Seekabel für den Datenaustausch. Im Gegensatz zu Erdrutschen oder Schneelawinen an Land sind Unterwasserlawinen nicht sichtbar und nur sehr schwer zu messen. Die Kenntnis über ihre Auswirkungen ist daher entscheidend für die Einschätzung zukünftiger Ereignisse.

Mit der umfassenden Dokumentation des ‚Bed 5‘-Suspensionsstromes gelang den Forschenden zudem der erste Feldnachweis des in der Fachwelt seit über 40 Jahren bekannten Prozesses zur Berechnung des Wachstumsfaktors von Suspensionsströmungen, die so genannte „Ignition Theory“. Diese Theorie beschreibt mathematisch das Wachstum großer Suspensionsströme in submarinen Systemen. Die Suspensionsströme nehmen auf ihrem Weg Sediment auf und werden damit größer und schneller, wodurch sie noch mehr Sediment erodieren und sich weiter ausbreiten können. Dieser verstärkende Prozess endet, sobald die Sedimentkonzentration hoch genug ist und die viskosen Kräfte übernehmen.

“Mit unserer Studie ist es uns gelungen, einen einzelnen Suspensionsstrom dieser Größe nicht nur vollständig zu kartieren, sondern damit auch ihren Wachstumsfaktor genau zu berechnen“, sagt Erstautor Dr. Christopher Stevenson von der Universität in Liverpool.

 

„Die Erkenntnisse aus dem ‚Bed 5-Ereignis‘ sind von enormer Bedeutung für die Vorhersage und Bewertung von marinen Naturgefahren wie Hangrutschungen. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, die Prozesse der Sedimentaufnahme und -verteilung in untermeerischen Strukturen wie Canyons noch besser zu verstehen, um zukünftige Ereignisse besser vorhersagen und ihre möglichen Auswirkungen auf maritime Infrastrukturen und Ökosysteme abschätzen zu können“, blickt Professor Dr. Sebastian Krastel, Leiter der Arbeitsgruppe Marine Geophysik an der CAU und Fahrtleiter der beiden Expeditionen der Maria S. Merian, in die Zukunft.

Zur Originalpublikation

 

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