Eine Studie des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) setzt neue Ansätze zur Erforschung von Korallenriffen ein. Unter der Leitung des Fischökologen Dr. Julian Lilkendey hat ein internationales Team modernste KI-Technologien genutzt, um die Bewegungen von Riff-Fischen im Roten Meer präzise zu analysieren.
Einsatz von KI und 3D-Tracking liefert neue Erkenntnisse zu Fressverhalten und Energieaufwand
Veröffentlicht im Fachmagazin “Ecology and Evolution” und durchgeführt mit Unterstützung von Forschenden des Labors für Informatik, Robotik und Mikroelektronik (LIRMM) der Universität Montpellier in Frankreich sowie der Auckland University of Technology (AUT) in Neuseeland, kombiniert die Studie Stereo-Video-Technologie mit KI-gestütztem 3D-Tracking. Diese innovative Methode ermöglichte detaillierte Einblicke in die Bewegungsmuster und den Energieaufwand zweier Doktorfischarten in ihrem natürlichen Lebensraum.
Die Untersuchung zeigte, dass Braune Doktorfische (Acanthurus nigrofuscus) bei der Nahrungssuche eine Präferenz für Algen auf abgestorbenen Korallen haben, während Gelbschwanz-Doktorfische (Zebrasoma xanthurum) ein breiteres Nahrungsspektrum nutzen und auch Algen von Geröll, Korallenschutt und Sand fressen.
Durch den Einsatz kalibrierter Stereo-Video-Systeme erfassten die Forschenden die dreidimensionalen Bewegungen der Fische während ihrer Nahrungssuche und erhielten dadurch eine weitaus tiefere Analyse als bei herkömmlichen zweidimensionalen Methoden, wie Erstautor Julian Lilkendey erklärt. Diese tiefere Analyse wurde durch den Einsatz von KI-Algorithmen noch weiter verfeinert.
Präzise Artenerkennung und Bewegungsanalyse
Zu Beginn der Studie kam das vortrainierte Modell YOLOv5 (You Only Look Once version 5) zum Einsatz, ein neuronales Netzwerk zur Echtzeit-Objekterkennung. Für die Forschung wurde YOLOv5 mit zusätzlichen Hintergrundbildern aus dem Roten Meer angepasst, um die Fische in den Videoaufnahmen besser erkennen zu können. Anschließend klassifizierte das Netzwerk die identifizierten Fische nach Arten.
Eine Herausforderung war das zielgerichtete Training des KI-Modells für die spezifische Erkennung der Arten.
„Da es wenige spezifische Trainingsbilder für die beiden Doktorfischarten und ihre Region gab, nutzten wir Medien von der Citizen-Science-Plattform ‚iNaturalist‘“, erklärt Lilkendey. „Auf diese Weise konnten wir eine Vielzahl öffentlich zugänglicher Fotos verwenden.“
Zur dreidimensionalen Bewegungsanalyse setzten die Forschenden den DeepSORT-Algorithmus (Simple Online and Realtime Tracking with a Deep Association Metric) ein.
„Dieser Algorithmus ermöglicht ein robustes Multi-Objekt-Tracking, indem er die erkannten Fische über aufeinanderfolgende Videoframes hinweg verfolgt“, erläutert Lilkendey. „DeepSORT kann die Bewegungen einzelner Fische sogar dann nachverfolgen, wenn sie kurzfristig aus dem Sichtfeld verschwinden oder von anderen Objekten verdeckt werden. Durch die Integration der 3D-Informationen aus den Stereo-Bildern erstellt der Algorithmus präzise dreidimensionale Bewegungsmuster der Fische.“
Durch die Kombination dieser Methoden und einem Modell zur Erfassung des Energieverbrauchs konnten neue Erkenntnisse zur Ökologie der Doktorfische gewonnen werden.
„Der Braune Doktorfisch zeigte ein spezialisiertes Fressverhalten und bevorzugte Algen auf spezifischen Untergründen, im Gegensatz zum generalisierten Fressverhalten des Gelbschwanz-Doktorfischs“, berichtet Lilkendey. „Trotz ihrer geringen Biomasse tragen beide Arten erheblich zur Beweidung des Riffs bei und nutzen die aufgenommene Energie aus der Nahrung ähnlich effizient für ihre Fortbewegung.“
Doktorfische als Schlüsselakteure für das Gleichgewicht im Korallenriff
Die Studienergebnisse verdeutlichen die wichtige Rolle von Doktorfischen für das ökologische Gleichgewicht in Korallenriffen. Veränderungen im Fressverhalten und im Energiehaushalt dieser Fische können das Algenwachstum und die Rekrutierung von Korallenlarven beeinflussen, was sich auf die Gesundheit und Biodiversität des gesamten Riff-Ökosystems auswirken kann. Die Forschenden konnten dadurch wertvolle Einblicke in die Funktionsweise mariner Ökosysteme gewinnen und eine Grundlage schaffen, um besser zu verstehen, wie Energie im Riff aufgenommen, umgewandelt und verteilt wird.
Dr. Lilkendey betont: „Mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung konnten wir die dreidimensionalen Bewegungen zahlreicher Fische gleichzeitig analysieren. Unser neuer methodischer Ansatz ermöglicht es, tiefer in die Komplexität des Fischverhaltens und der daraus resultierenden Energieflüsse einzutauchen.“
Dieser Ansatz eröffnet neue Möglichkeiten für die Erstellung von sogenannten ‚Energy Seascapes‘, detaillierten Darstellungen des Energieverbrauchs von Meeresbewohnern. Solche Kartierungen sind entscheidend, um effektive Gesundheitsindikatoren und innovative Schutzmaßnahmen für Korallenriffe zu entwickeln.