Ein internationales Forschungsteam hat ein zentrales Rätsel der Evolution gelöst. Durch die Analyse von 77 Mollusken-Genomen konnten die Forschenden den Stammbaum der Weichtiere, einer der artenreichsten Tiergruppen, rekonstruieren. Die gerade als Titelstory in der renommierten Fachzeitschrift Science veröffentlichte Studie liefert neue Erkenntnisse über den Vorfahren aller heutigen Mollusken. Dieser besaß vermutlich eine robuste Schale, einen Fuß zur Fortbewegung, keine Augen und eine Radula als Mundwerkzeug. Die große genomische Variabilität der Mollusken könnte eine entscheidende Rolle für ihren evolutionären Erfolg gespielt haben, heißt es in der Studie.
Eine faszinierende Vielfalt an Lebensformen
Mollusken gehören mit über 100.000 bekannten und unzähligen noch unentdeckten Arten zu den vielfältigsten Tierstämmen und kommen in fast allen Lebensräumen der Erde vor. Sie unterscheiden sich stark in Körperform und Lebensweise – von winzigen Schnecken über meterlange Riesenkalmare bis hin zu hochintelligenten Kopffüßern mit ausgeklügelten Tarnmechanismen.
„Wir finden Mollusken in der Tiefsee, an Küsten, im Süßwasser und an Land. Sie sind Pflanzenfresser, Räuber oder Aasfresser. Weichtiere tragen erheblich zur Stabilität mariner und terrestrischer Ökosysteme bei. Einige Arten dienen auch als Modellorganismen in der Medizin“, erklärt die Erstautorin der Studie, Dr. Zeyuan Chen vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt. Sie betont jedoch auch: „Ihre außergewöhnliche Vielfalt erschwert eine zuverlässige Erfassung ihrer Evolutionsgeschichte.“
Um den evolutionären Ursprung der Mollusken zu verstehen, untersuchten Chen und ihr Team die Genome von 77 Arten aus allen acht großen Weichtiergruppen. 13 dieser Genome – allesamt von seltenen Arten – wurden erstmals von Forschenden in Frankfurt und Wilhelmshaven entschlüsselt. Mithilfe modernster Techniken konnten die Wissenschaftler:innen daraufhin einen detaillierten Stammbaum der Weichtiere rekonstruieren und zentrale Hypothesen zur Abstammung bestätigen.Der „Ur-Mollusk“ und neue Erkenntnisse zur Evolution
„Durch unsere Daten können wir nun ein viel besseres Bild des Ahnen aller Weichtiere zeichnen“, erläutert Chen. Sie beschreibt diesen frühen Vorfahren, der vor über 500 Millionen Jahren lebte, als „einen Organismus mit harter Schale, einem Fuß zur Fortbewegung, ohne Augen, aber mit einer Radula – einem charakteristischen Fresswerkzeug in Form einer Raspelzunge.“
Zwei Hauptlinien und eine neue Verwandtschaftsgruppe
Die Studie zeigt, dass sich Mollusken früh in ihrer Evolutionsgeschichte in zwei Hauptgruppen aufteilten: Die Aculifera, die mit nadelartigen Stacheln oder festen Schalen ausgestattet sind, und die Conchifera, zu denen bekannte Gruppen wie Schnecken, Muscheln und Kopffüßer gehören. Eine seit langem geführte wissenschaftliche Debatte zur Verwandtschaft bestimmter Weichtiere konnte ebenfalls geklärt werden. So bestätigt die Studie, dass Monoplacophora – kopflose Mollusken mit kappenartiger Schale, die als „lebende Fossilien“ gelten – den ältesten Abstammungszweig der Conchifera bilden. Zudem schlägt das Forschungsteam eine neue Verwandtschaftsgruppe vor: die „Megalopodifera“ oder „Großfuß-Weichtiere“, die Schnecken, Muscheln und Scaphopoden umfassen. Der Name dieser Gruppe deutet darauf hin, dass sich diese Tiere aus einem gemeinsamen Vorfahren mit großem, ausstreckbarem Fuß und zurückziehbarem Körper entwickelten.
„Die hohe genetische Vielfalt von Mollusken sorgt sehr wahrscheinlich dafür, dass sie sich so erfolgreich an eine Reihe von Umgebungen und Umweltbedingungen anpassen konnten“, fasst Prof. Dr. Julia Sigwart, Leiterin der Abteilung Malakologie am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, zusammen. „Unsere Forschung liefert eine Grundlage für das Verständnis der Evolution und der Biologie einer der erfolgreichsten Tiergruppen der Erde. Unsere Ergebnisse öffnen die Tür für Anwendungen in der Biotechnologie und im Naturschutz. Wir hoffen, unsere Analyse noch ausweiten zu können, indem wir weitere Arten genetisch untersuchen. Die schier endlosen Formen der Mollusken zeigen die ungeheure Kraft der tierischen Evolution.“